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  Johann Wolfgang Goethe
Die Leiden des jungen Werthers

- Eine literarische Textbetrachtung -

 
 
 
 

 Inhalt  |   Hintergrund  |  Wirkung & Rezension  |  Stil & Formales  |  Interpretation
 
 
Zum Inhalt:
Die Hauptperson von Goethe's Briefroman stellt Werther dar. Man erfährt aus seinen Briefen  an seinen Freund Wilhelm, dass er wenig älter als 20 Jahre ist und sich noch nicht schlüssig ist, welchen Sinn er seinem Leben geben soll, welcher Beschäftigung er nachgehen soll. 
Eine weitere Rolle nimmt Lotte ein, die 19jährige Tochter eines verwitweten Amts- mannes. Sie führt den Haushalt seit dem Tod ihrer Mutter allein und kümmert sich liebevoll um ihren vielen kleineren Geschwister. Lotte ist seit vier Jahren mit dem 11 Jahre älteren (sprich 30jährigen) Gesellschaftssekretär Albert verlobt, der ein gütiger, gutmütiger Mann ist, aber zum Widersacher Werthers wird.
Über Wilhelm, den Adressaten von Werthers Briefen erfährt der Leser nichts, auch auf den Inhalt seiner Briefe muss man aus dem Kontext schließen. Der Leser  nimmt so selbst dessen Rolle ein.

Werther, der aus bürgerlichen Verhältnissen stammt, verläßt sein zuhause, um Erb- schaftsangelegenheiten für seine Mutter zu regeln. Schon bald vernachlässigt er jedoch seine Aufgaben und bringt seine Zeit mit dem Genießen seiner Umgebung, langen Nachmittagen im Gras bei. Er schließt schnell Freundschaft mit den netten Menschen, die sein "Paradies" bevölkern. Von neuen Bekanntschaften zu einem Ball eingeladen, lernt er auf der Fahrt dorthin Lotte kennen und verliebt sich vom ersten Augenblick an in sie, obwohl er weiß, dass sie bereits verlobt ist. Während eines Ge- witters auf dem Ball, wird beiden ihre Zuneigung klar, als sie an ein Gedicht von Klop- stock denken müssen. In der folgenden Zeit besucht Werther Lotte nahezu täglich und verlebt in ihrer Nähe glückliche Stunden.
Als jedoch Albert, Lottes Verlobter, von seiner Reise zurückkehrt, wandeln sich Wer- thers Empfindungen für Lotte von "Glückseligkeit" zur "Quelle seines Unglücks", da ihm durch Alberts Anwesenheit immer deutlicher wird, dass seine Liebe aussichtslos bleiben muss, dass Lotte seine Gefühle nie erwidern können wird. Zwar ist Albert dem jungen Werther wohlgesinnt, aber ihre Beziehung bleibt stets zwiespältig, da zusätzlich zu ihrer beider Liebe für Lotte sich auch noch grundverschiedene Wertvorstellungen herauskristallisieren. Werther erkennt in seinen Briefen, dass seine starke Empfin- dungen für Lotte ihn zum Verhängnis werden können, da das Gefühl absoluter Liebe einseitig bleibt, und beschließt, sie zu verlassen. 
Eine Gesandtentätigkeit für einen Herzog soll Werther örtlich, gedanklich und gefühlsmäßig aus Lottes Bann lösen. Seine Anstrengungen, in der Gesellschaft der Adeligen als Bürgerlicher Anschluß zu finden und Erfolg zu haben, scheitern an den einengenden Verhältnissen der Stände.
Es zieht Werther wieder zu Lotte zurück. Diese ist nun allerdings schon mit Albert verheiratet. Werthers Zustand wird durch diese schier unüberwindliche Barriere für seine unbedingte Liebe zu Lotte immer labiler. Sein Verstand ist nicht in de Lage, seinen Gefülen Einhalt zu gebieten. Eines Abends besucht Werther Lotte in Abwe- senheit Alberts. Er umarmt und küßt sie leidenschaftlich und wirft sich vor ihr nieder.  Lotte reißt sich jedoch los und schließt sich ein, um nicht den Annäherungen Werthers nachzugeben. 
In seiner Verzweiflung vollendet Werther einen Abschiedsbrief, den er schon früher begonnen hatte, leiht sich von Albert unter einem Vorwand Pistolen und erschießt sich.

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Zum Hintergrund:
Um beantworten zu können, inwiefern die im "Werther" geschilderten Ereignisse auto- biographische Züge tragen, muss man sich über die Hintergründe der Entstehungsge- schichte klar werden.
Schon bald nach Erscheinen von "Die Leiden des jungen Werthers" wird Goethe da- rauf angesprochen, ob Werther den wirklich gelebt hat und wo sich die Geschichte abgespielt hat. Es wird bald klar, dass sich im Grunde genommen hinter Werther Goethe selbst verbirgt. So schreibt er 1815 dem Komponisten Carl Friedrich Zelter:

    "Dass alle Symptome dieser wunderlichen, so natürlichen als unnatürlichen
       Krankheit auch einmal mein Innerstes durchrast haben, daran lässt Werther
      wohl niemanden zweifeln. Ich weiß noch recht gut, was es mich damals für
       Anstrengungen kostete, den Wellen des Todes zu entkommen..."

Genauer gesagt sind es wohl aber drei verschiedene Einflüsse, die zur Entstehung des "Werther" beigetragen haben.
Ende Mai 1772 tritt Goethe, mit vollendetem Studium der Juristerei, in Wetzlar im Lahntal ein Praktikum am Reichskammergericht an (=oberstes Gericht des Heiligen Römischen Reiches). Hier lernt er unter anderem den Sekretär Karl Wilhelm Jerusa-
lem kennen, mit dem er am 9. Juni bei einem Ball in Volgertshausen zugegen ist. An diesem Abend wird ihm die 19jährige Charlotte Buff und ihrälteren Verlobter Johann Christian Kestner vorgestellt. Er verliebt sich in Charlotte und ist häufig bei ihr zu Gast.
Zwischen Goethe und Kestner entwickelt sich ein Ver-hältnis, das zwischen Freundschaft und Ablehnung schwankt. Charlotte weiß geschickt mit den offensicht-lichen Gefühlen Goethes umzugehen und macht ihm deutlich, dass er sich keine Hoffnungen auf eine Bezieh-ung machen braucht. Am 11. September verläßt Goethe ohne sich vorher zu verabschieden, er will offensichtlich einen Schlußstrich ziehen. Am Tag zuvor hatte er jedoch -ebenso wie Werther- ein Gespräch über Weggehen, Wiederkommen und das Leben nach dem Tod mit Charlotte und ihrem Verlobten geführt. Hier zeigen sich deutliche Parallelen. Goethe ist am 9. Juni auf dem Ball; Werther lernt Lotte zwischen dem 30. Mai und 16. Juni kennen. (Char)Lotte ist wie im Buch Tochter eines verwit weten Amtsmannes und hat viele Geschwister. Goethe und Werther haben beide am 28. August Geburtstag und beide verlassen Lotte am 11. September. Durch diese und andere Gemeinsamkeiten, wird klar, dass Goethe im ersten Teil des Romans seine Zeit in Wetzlar verarbeitet.
Goethe bleibt mit den Kestners in Briefkontakt und erfährt so vom Selbstmord seines schon erwähnten Freundes Jerusalem. Das Motiv für diese Tat, so erfährt Goethe, war die unglückliche, unerfüllte Liebe zur Frau des pfälzischen Sekretärs H. Für seinen Selbstmord hat sich Jerusalem -ebenso wie Werther- vom nichtsahnenden Kestner Pirstolen geliehen. Auch Jerusalem wurde bei seiner Tätigkeit der Zugang zur Gesell- schaft verwehrt und er lag -wie Werther im zweiten Teil- im Streit mit einem Gesand- ten. Als weitere Parallele zum Roman erweißt sich das Motiv der langen Spazier- gänge im Mondschein, die der Stimmung des Verliebten Ausdruck verleihen, als auch seine leidenschaftliche Verteidigung des Rechtes auf Selbstmord. Auch war Jerusa- lem vor seinem Freitod einmal allein bei seiner Angebeteten. Bei der Beschreibung von Werthers Selbstmord hat Goethe oft wortwörtlich Textstellen aus Kestners Brief über das tragische Ende Jerusalems verwendet. Der Freitod des Freundes stellt also das zweite Motiv des Romans dar.
Als endgültiger Anstoß für Goethe, den "Werther" zu schreiben, ist wohl ein Streit zwischen ihm und dem Frankfurter Kaufmann Peter Anton Brentano anzusehen. Goethe hatte sich in dessen Frau Maximiliane von La Roche verliebt, die er auf der Rückreise von Wetzlar kennengelernt hatte. Nach diesen drei unmittelbaren, persön- lichen Erfahrungen mit unerfüllter Liebe zieht sich Goethe zurück und schreibt sich seinen Ärger, seine aufgestauten Gefühle und die über ihn hereinstürzenden Ereignis- se wie in einer "Generalbeichte" in nur vier Wochen im Frühjahr 1774 von der Seele.
Im Sommer des selben Jahres erscheint der Roman in der Weygand'schen Buch- handlung in Leipzig.

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Zu Wirkung & Rezension:
Innerhalb kürzester Zeit erscheinen immer neue Drucke des Romans und er avanciert zu dem, was man heute als "bestseller" bezeichnen würde. Schon bald werden Über- setzungen ins Französische, Englische und viele andere europäische Sprachen her- ausgegeben und verkaufen sich ähnlich erfolgreich. Seinen Autor, Johann Wolfgang Goethe macht der Briefroman erst 23jährig schlagartig berühmt, und zum "Popstar".
Aus allen Teilen Deutschlands und ebenso aus dem Ausland pilgern die Menschen geradezu zu Goethes Haus um den Autor des "Werther" kennenzulernen; einfluß- reiche und adelige Persönlichkeiten geben sich die Klinke in die Hand. So macht Goethe z.B. auch die Bekannschaft des Herzogs Karl August, der ihn später nach Weimar holt.
Mit seinem Roman voller Gefühl, der beschrieb, was die vorher literarisch vernachläs- sigte Jugend aus eigenen Empfindungen kannte, hatte Goethe voll den "Zeitgeist" getroffen. Die Lektüre der "Leiden des jungen Werthers" wurde praktisch in allen Schichten der Gesellschaft zu einem Muß und bot reichen Gesprächsstoff. Die Be- geisterung für das Buch und seine gefühlvolle Geschichte entwickelt die wohl erste erfolgreiche und umfassende "Merchandising"-Kampagne der Literaturgeschichte.
Die Mode der Jugend wird bestimmt von der "Werther-Tracht", d.h. blauer Frack mit Messingknöpfen, gelbe Weste, braune Stulpenstiefel und runder Filzhut sind das, was der modebewußte Stürmer&Dränger trägt. Man kann Werther-Porzellanfigürchen, Tas- sen mit Bildern zum Buch, Werther-Parfum, Fächer mit dem Bild Werthers und ähnlich Unerläßliches käuflich erwerben. 
Vor allem von den Kritikern des Buches wird der Vorwurf geäußert, dass es in Folge des Romans zu einem sprunghaften Anstieg von Selbstmorden kam. Goethe selbst hält allerdings nichts von denen, die "glauben, man müsse die Poesie in Wirklichkeit verwandeln, einen solchen Roman nachspielen, und sich allenfalls selbst erschies- sen."
Auch die Kirche polemisierte gegen das Werk, da Selbstmord ein sündiger Eingriff in die Vorrechte des Schöpfergottes ist und das Buch den Geist schwacher Gemüter leicht verderben könne. So wurde der Roman in Leipzig, Bayern und Österreich auf den Index gesetzt. 
Die Bedeutung des "Werther" läßt sich darüber hinaus an den unzähligen Werken ab- lesen, die in seiner Nachfolge erschienen. Sei es als Kritik oder Satire auf Goethes Werk oder als Nach- und Neubearbeitung des Themas. Beispiele sind Werke von Lenz, Kleist, Alexandre Dumas und Nestroy. Sogar Hitlers Einpeitscher Goebbels mißbrauchte das wohlbekannte Motiv 1929 für einen anti-semitischen Pamphlet. Am bekanntesten dürften heutzutage jedoch wohl "Die neuen Leiden des jungen W." von Ulrich Plenzdorff.
Literarisch gesehen erhält das Werk seine größte Bedeutung aus der Tatsache, dass es als Initialzündung für die Epoche des Sturm&Drang angesehen wird. In Kritik an und kritisiert von der etablierten Aufklärung und deren Vertretern, wie Lessing, Nikolai oder Mendelsohn, die ihn ihrer rationellen Welt kein Platz für solche Gefühlsduselei haben, bildet sich eine Generation junger Dichter. Der Werther soll zum Urtyp des leiden- schaftlichen, emotionalen Genies werden, die sich in den Werken dieser Epoche finden. Autoren wie Lenz, Bürger oder Schubert wird durch den publizistischen Erfolg des "Werther" der Weg gebahnt.
Der außergewöhnliche und eigentlich noch immer unübertroffene Erfolg des Romans läßt sich wohl, darauf zurückführen, dass Goethe authentisch schrieb, da er Selbster- lebtes verarbeitete. Gerade die vorwiegend junge Leserschaft Goethes können "Werther" und seine Gefühle nachempfinden, denn, so Goethe 1821 zu seinem Sek- reatär Eckermann, 

      ''Es müßte schlimm sein, wenn nicht jeder einmal in seinem Leben eine
         Epoche haben sollte, wo ihm der Werther käme, als wäre er bloß für ihn
         geschrieben."

Für ein eindrucksvolleres Leseerlebnis wird empfohlen, genau dann den "Werther" zu lesen, ihn sich allerdings nicht zu sehr als Parabel auf das eigene Erleben vorzustellen !!!

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Zum Stil & Formales:
Bei Lektüre des Romans, fühlt man sich an eine Biographie erinnert. Dieser Eindruck beginnt schon im Vorwort, wo Goethe als imaginärer Biograph spricht:

        "Was ich von der Geschichte des armen Werther nur habe auffinden
           können, habe ich mit Fleiß gesammelt und lege es euch hier vor."

Die Authenzität des Romans wird also von Anfang an betont, der Leser muß zu dem Schluß kommen, dass hier reelle Ereignisse nacherzählt werden. Noch verstärkt wird dieses Gefühl dadurch, dass sich der Verfasser im zweiten Teil des Romans ganz konkret ins Geschehen einklinkt, um die noch erhaltenen Briefe durch eigene Berichte zu ergänzen. An einigen Stellen wird diese scheinbare Authenzität dadurch unter- mauert, dass Goethe ganz im Stil moderner Nachrichtenmagazine Namen von Neben- personen auf Initiale kürzt und Ortsnamen abändert. Als täte er das aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes oder ähnlichem. Auch eine Anmerkung à la "Name von der Redaktion geändert" fehlt an diesen Stellen nicht.

Der ganze Roman ist -abgesehen von den Einschüben des Verfassers gegen Ende-  vollkommen in Form von Briefen mit Datierung abgefasst. So kann der Leser genau die Leiden Werthers auch in zeitlicher Abfolge nachvollziehen. Der Leser übernimmt die Rolle des Adressaten Wilhelm, ihm wird wie einem Tagebuch, und daher äußerst intim, alles anvertraut, was der Held durchlebt. 

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Zur Interpretation:
Dadurch, dass die Antworten auf Werthers Briefe bestenfalls zu erraten sind, stellt sich bald eine monologartige Situation ein. Es ist, als führe Werther ein Gespräch mit sei- nem anderen ich, dem er von seinen Gefühlen, seinen Leiden berichtet.
Schon daraus kann man einen Schluß auf die isolierte Stellung Werthers ziehen. Er findet, als tatkräftiges, emotionales Sturm&Drang Genie in seiner Umwelt, niemanden, der ihm ebenbürtig wäre. Und auch Wilhelm (keine große Seele), kann ihn mit einzig an die Vernunft appellierenden Vorschlägen nicht aus seinem Weltschmerz heraus- führen. Die Vernunft hat keinen Platz, keine Daseinsberechtigung in den Herzensange- legenheiten Werthers. Die Einsamkeit ist selbstgewählt, da er sich ansonsten durch die "fatalen, bürgerlichen Verhältnisse" eingeengt sieht. 

    "Wenn ich die Einschränkung so ansehe, in welche die tätigen und for-
       schenden Kräfte des Menschen eingesperrt sind... kehre ich in mich
       selbst zurück und finde eine Welt!"

Mit seinen "überspannten Ideen" ist er als Bürgerlicher auch in Adelsdiensten sehr eingeschränkt, was er nicht lange ertragen kann. Aber schon früh sieht er einen engdültigen Ausweg aus der Unfreiheit des Lebens: Selbstmord. 

   "Und dann, so eingeschränkt er ist, hält er doch immer im Herzen das 
      süße Gefühl der Freiheit, und dass er diesen Kerker verlassen kann,
      wann er will."

Der Selbstmord wird somit zur Verkörperung des Naturrechts auf Freiheit, die keine Obrigkeit dem Menschen zu nehmen vermag.
In diesem Zusammenhang ist auch Werthers Verhältnis zu Albert zu sehen.  Goethe zeichnet hier den um ihn tobenden Konflikt zwischen den Denkern und Literaten der Aufklärung und der neuen, jugendlichen Generation des Sturm & Drang nach. Die Ver- nunft, althergebrachte Werte und Stabilität sind für Albert bestimmend, während Wer- ther sich intensiv, emotional und sicher auch absichtlich unüberlegt, sozusagen Hals- über Kopf in sein Leben stürzt. Am deutlichsten wird dieser Zwiespalt beim schon angeschnittenen Thema Selbstmord. 
Werther lässt alle Einwände Alberts nicht gelten und verteidigt leidenschaftlich das Recht auf Selbsttötung, das er als eine Erweiterung des natürlichen Todes ansieht. Ein Mensch, dessen "Maß an Leiden" überschritten sei, erliege einer "Krankheit zum Tode", die durch äußere Umstände hervorgerufen, für Werther als unausweichlich und unheilbar gilt. Schon bald erkennt er die Symptome dieser Krankheit auch an sich selbst. Im Brief vom 30. August 1771 wird der Konflikt zwischen "Schmerz und Selig- keit" besonders deutlich.

    "...Wenn ich bei ihr gesessen bin, zwei, drei Stunden, und mich an ihrer
      Gestalt, an ihrem Betragen, an dem himmlischen Ausdruck ihrer Worte
      geweidet habe, und nun nach und nach alle meine Sinne aufgespannt
      werden, mir es düster vor den Augen wird, ich kaum noch höre, und es
      mich an die Gurgel fasst wie ein Meuchelmörder, dann mein Herz in wil-
      den Schlägen den bedrängten Sinnen Luft zu machen sucht, und ihre 
      Verwirrung nur vermehrt -Wilhelm, ich weiß oft nicht, ob ich auf der Welt
      bin! Und,- wenn nicht manchmal die Wehmut das Übergewicht nimmt,
      und Lotte mir den elenden Trost erlaubt, auf ihrer Hand meine Beklem-
      mung auszuweinen, -so muss ichfort, muss hinaus! und schweife dann
      weit im Feld umher; einen jähen Berg zu klettern ist dann meine Freude,
      durch einen unwegsamen Wald einen Pfad durchzuarbeiten, durch die
      Hecken, die mich verletzen, durch die Dornen, die mich zerreißen! Da
      wird's mir etwas besser! Etwas! Und wenn ich vor Müdigkeit und Durst
      manchmal unterwegs liegen bleibe, manchmal in der tiefen Nacht, wenn
      der hohe Vollmond über mir steht, im einsamen Walde, auf einen 
      krummgewachsenen Baum mich setze, um meinen verwundeten Sohlen
      nur einige Linderung zu verschaffen, und dann in einer ermattenden 
      Ruhe in den Dämmerschein hinschlummre! O Wilhelm! die einsame
      Wohnung einer Zelle, das härene Gewand und der Stachelgürtel wären
      Labsale, nach denen meine Seele schmachtet. 
      Adieu! Ich seh' dieses Elendes kein Ende als das Grab!"
 

Werthers Liebe birgt also schon in ihrer Unbedingtheit - er will nur sie, sieht in allem nur immer sie - das Verhängnis für ihn. Denn da diese unbedingte Liebe im mora- lischen und gesellschaftlichen Rahmen des späten 18. Jahrhunderts und durch die Ablehnung Lottes keine Hoffnung auf Erfüllung haben kann, wächst ihn ihm die Sehn- sucht nach dem Tod. So schreibt er am 16. März:

     "Ach, ich hab hundertmal ein Messer ergriffen, um diesem gedrängtem
      Herzen Luft zu machen (...) ich möchte mir eine Ader öffnen, die ewige
      Freiheit schaffte."

Neben dem Selbstmord sieht Werther nur zwei weitere Erlösungen aus seiner schier ausweglosen Situation:
Zum einen, den Mord an Albert, so am 21. August als er sich fragt :"Was, wenn Albert stürbe?" ...dann, so dürfen wir fortsetzen, könnte er hoffen, dass Lotte nach dieser gewaltsamen Lösung der ehelichen Fesseln, für ihn frei wäre. Dieser Weg wird im Roman symbolisch zuende ge-gangen durch die Episode mit dem Bauernburschen, der aus unerfüllter Liebe zu seiner verwitweten Herrin einen Nebenbuhler erschlägt. Werther verteidigt diese Tat, da er sich in die Gefühlswelt des Täters versetzen kann. Nur selbst geht er diesen Weg dann dennoch nicht.
Als zweite Alternative bleibt der Wahnsinn. Auch dies wir im Roman in einer Nebenhandlung dargestellt. Ein Mann, der früher bei Lottes Vater als Schreiber tätig war wurde über seine verborgene Liebe zu Lotte verrückt. Nun irrt er im Win-ter über die Wiesen, sucht im Schnee Blumen für seine Geliebte und kann sie (natürlich) nicht finden.
 

Werther wählt schließlich den Selbstmord, da er es als seinen Fehler ansieht, dass sein "Herz tot ist". Die Ursache ist also innerlicher Natur und scheint beständig. Die Selbsttötung erscheint als einzige Möglichkeit, dagegen vorzugehen.
Das eben erwähnte Herz nimmt im Roman eine zentrale Stelle ein, bildet sozusagen einen Leitfaden, der die Briefe verbindet. Schon im ersten Brief wird fünfmal vom Herzen gesprochen, das sich freut, trauert, leidet, empfindet. Zum Herzen tritt weiter die Seele, die "der Spiegel des unendlichen Gottes" ist. Hier tritt nun also eine über- irdische Kraft, Gott, hinzu, der sich auch in der Natur, dem dritten Zentralbegriff des Romans offenbart. Werther begnügt sich nicht mit bloßer Naturbetrachtung und einer Beschreibung dessen, was er sieht, sondern er sieht seine Gefühle in der Natur wider- gespiegelt. Vor Alberts Eintreffen, als Werthers Liebe also noch frei von offenbaren Sorgen ist, wirkt die ganze Natur frühlingshaft und belebend auf ihn ein. Sonnenauf- gänge, Spaziergänge in grüne Täler, Verweilen an Bächen und Brunnen, das Leben blüht. Als ihm jedoch immer bewußter wird, wie aussichtslos seine Gefühle für Lotte sind, scheint auch die Natur seine Verzweiflung noch zu verstärken. Düstere Nacht- wanderungen, er sieht dort, wo einst alles von Leben und Liebe erfüllt schien "nichts, als ein ewig verschlingendes, ewig wiederkäuendes Ungeheuer".

All diese Merkmale grenzen "Die Leiden des jungen Werthers" von der vorherge- henden Literatur der Aufklärung ab.  Dass so persönlich über eine gegen die starren Regel einer Ständegesellschaft verstossenden Liebe berichtet wird, die darüber hinaus noch in der Todsünde eines Selbstmordes ihr Ende findet, war unerhört. Die zentrale Rolle, die der Liebe und der restlichen Gefühlspalette in Goethes bahnbrech- endem Werk eingeräumt wird, traf nicht nur den Zeitgeist der Leserschaft. sondern machte auch gewaltigen Eindruck auf andere junge Literaten. Eine neue Generation hatte nun ihre inhaltliche Rebellion gegen das literarische Establishment gefunden.
Anstelle der reinen Vernunft aufklärerischer Prägung wollte man nun ein ganzheitlich- eres, realitätsnäheres (?) Bild menschlichen Verhaltens zeichnen.
Die schamlos vernachlässigte Gefühlswelt, mit der die jungen Schriftsteller natürlich auch in ihrem eigenen (Seelen)Leben konfrontiert waren, forderte ihren Platz ein. 
Die Genie- und Gefühlsgewitter des Sturm&Drang waren heraufgezogen !

Auch wenn wir auf den ersten Blick in Goethes altertümlich und schmachtend wir- kender Sprache keinen persönlichen Bezugspunkt finden, so stellt sich nach einem tieferen Anlesen heraus, das der junge Goethe einen zeitlosen Roman geschaffen hat.
Der Inhalt - eine tiefempfundene unerfüllte und daher unendlich schmerzvolle Liebe, die unsere Gefühlswelt ins Wanken bringt und unser Leben an den klaffenden Abgrund führt - ist eine Erfahrung, die wir heute ebenso gut machen können, wie vor über 220 Jahren. 
Und genau dafür ist der Werther geschrieben. Daher nochmal Goethe zum Abschluß:

       ''Es müßte schlimm sein, wenn nicht jeder einmal in seinem Leben eine
         Epoche haben sollte, wo ihm der Werther käme, als wäre er bloß für ihn
         geschrieben."

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